FVA-Workbench: Die Grundlage für digitale Zwillinge


Die digitale Transformation verändert die Industrie grundlegend und digitale Zwillinge spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie ermöglichen die Echtzeitüberwachung physischer Systeme, die Simulation ihres Verhaltens und fundierte Entscheidungsfindung. Eine am Institut für Produktentwicklung und Maschinenelemente (pmd) der TU Darmstadt durchgeführte Abschlussarbeit zeigt, wie die Getriebedesignsoftware FVA-Workbench als Grundlage für digitale Zwillinge von Industriegetrieben eingesetzt werden kann. Die Ergebnisse verdeutlichen, wie die Kombination aus detaillierter Modellierung, kontinuierlicher Echtzeitberechnung und ansprechender Dashboard-Visualisierung eine effiziente und benutzerfreundliche Lösung für die Entwicklung digitaler Zwillinge bietet.

Digitaler Zwilling – Was ist das?

Digitale Zwillinge technischer Systeme bieten ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten und Potenzialen (Attaran und Celik 2023). Der Begriff beschreibt die digitale Repräsentation eines konkreten physischen Systems. In diesem Artikel wird der digitale Zwilling als eine digitale Abbildung des physischen Modells mit Livedatenanbindung betrachtet. Während des Betriebs werden dessen Sensor- und Betriebsdaten kontinuierlich erfasst und dem digitalen Zwilling bereitgestellt. Diese Daten dienen als Eingangsgrößen von Modellen, die das reale System nachbilden und dessen Verhalten beschreiben. Damit wird das Verhalten live berechnet oder simuliert, was Voraussagen und Rückschlüsse ermöglicht (Stark et al. 2020; Czwick et al. 2020; Wilking et al. 2021).

FVA-Forschungsprojekt „Digitaler Zwilling II“

Im Rahmen des FVA-Projekts FVA 889 II – „Digitaler Zwilling II“ wird die Thematik der digitalen Zwillinge und deren Erstellung vom pmd der TU Darmstadt gemeinsam mit dem KTmfk der FAU Erlangen-Nürnberg intensiv erforscht. Ein zentraler Bestandteil dieses Projekts ist die Entwicklung eines Demonstrators für einen digitalen Zwilling eines zweistufigen Industriegetriebes des Typs X2FS100e von SEW-Eurodrive (s. Bild oben). Dieses Getriebe ist Teil eines Prüfaufbaus an der TU Darmstadt und kann gezielt mit Drehzahlen und Drehmoment belastet werden. Zur Erfassung der Betriebsdaten werden im und am Getriebe verschiedene Sensoren verbaut. In diesem Fall sind vor allem Drehzahl und Drehmoment relevant. Die Messdaten werden in Echtzeit auf einem Messdatenserver der TU Darmstadt abgelegt.

Drei Schritte zum digitalen Zwilling mit der FVA-Workbench

Die digitale Beschreibung und Repräsentation des Getriebes wird durch die Modellierung und Berechnung des Getriebes in der FVA-Workbench adressiert. Die Umsetzung dessen fand im Rahmen der Abschlussarbeit mit dem Titel „Creation of a Digital Twin through real time integration of the FVA-Workbench“ von William Gunawan am pmd der TU Darmstadt statt. Betreut wurde die Abschlussarbeit von Prof. Dr.-Ing. Eckhard Kirchner und Michel Fett. Das Vorhaben kann in drei Schritte aufgeteilt werden: Das Modellieren des Getriebes, der Aufbau einer Live-Berechnung und die Visualisierung in einem Dashboard. Im Folgenden wird eine Übersicht über das Vorgehen und die gewonnenen Erkenntnisse gegeben.

Schritt 1: Modellierung

Zunächst wird das Getriebe, von welchem der digitale Zwilling erstellt werden soll, in der FVA-Workbench modelliert. Hierzu werden die beiden Zahnradpaarungen des zweistufigen Getriebes implementiert. Neben den Materialparametern wird vor allem die Geometrie der einzelnen Zahnräder beschrieben. Dies beinhaltet beispielsweise Zähnezahl, Modul, Schrägungswinkel, Kopfkreisdurchmesser und Teilkreisdurchmesser der einzelnen Zahnradstufen. Weiter werden die drei Wellen der Getriebestufen beschrieben, indem unter anderem Materialparameter, Achsabstände und Geometrien der einzelnen Wellenabsätze hinterlegt werden. Die Lager können als Normteile aus der Bibliothek der FVA-Workbench ausgewählt werden. Gleiches gilt für das Getriebeöl. Das Gehäuse des Getriebes wird vernachlässigt und nicht modelliert, da in dem Projekt keine CAD-Daten des Gehäuses zur Verfügung standen.

Schritt 2: Live-Berechnung

Die reguläre Benutzung der FVA-Workbench sieht vor, dass das Verhalten und die Eigenschaften des modellierten Getriebes einmalig simuliert werden und aus den Ergebnissen ein Ergebnis-Report erstellt wird. Für die Funktionalität eines digitalen Zwillings ist allerdings eine durchgängige, zyklisch wiederkehrende Live-Berechnung notwendig. Dies kann in der FVA-Workbench über die Scripting-Funktion erreicht werden, welche die Durchführung von Berechnungen automatisiert. Zu diesem Zweck wird ein Skript erstellt, das alle 10 Sekunden auf den Messdatenserver der TU Darmstadt zugreift und dort die neusten Messdaten der am Getriebe verbauten Sensoren importiert. Diese Messdaten beinhalten die aktuellen Werte des Drehmoments und der Drehzahl, welche dann als Eingangsgrößen für die Berechnungen in der FVA-Workbench dienen. Damit wird alle 10 Sekunden das aktuelle Verhalten und der Zustand des Getriebes berechnet.

Schritt 3: Visualisierung

Für die Benutzbarkeit des digitalen Zwillings ist eine Erstellung von Ergebnis-Reports alle 10 Sekunden nicht zielführend. Stattdessen werden die Berechnungsergebnisse der FVA-Workbench als Excel-Dateien exportiert. Mithilfe von VBA (Visual Basics for Applications) wird direkt in der Excel-Anwendung ein Live-Dashboard aufgebaut, welches sich regelmäßig aktualisiert und mit den neusten Berechnungsergebnissen den aktuellen Zustand des Getriebes anzeigt. So wird beispielsweise die Lastverteilung der Zahnflanken sowie das Belastungsverhältnis C/P der Lager visualisiert. Nach jeder neuen Berechnung in der FVA-Workbench werden die Plots im Dashboard aktualisiert.

Die FVA-Workbench: Vielseitiges Werkzeug für Getriebe-Design und Industrie 4.0-Anwendungen

Die FVA-Workbench geht weit über grundlegende Funktionen einer typischen Getriebedesignsoftware hinaus und bietet zahlreiche Erweiterungsmöglichkeiten, die ihre Vielseitigkeit in unterschiedlichen Anwendungsszenarien steigern. Benutzer können individuelle Skripte implementieren, um spezifische Berechnungen zu automatisieren und maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln. Damit ist die FVA-Workbench ein zentraler Baustein im Lifecycle Management von Getrieben. Zudem ermöglicht die Kombination der FVA-Workbench mit moderner Datenerfassung eine tiefere Analyse der erfassten Sensordaten physischer Systeme. Dadurch können Anomalien im Betrieb frühzeitig erkannt und die Auswirkungen von Systemveränderungen schnell identifiziert werden. Dies eröffnet neue Potenziale für vorausschauende Wartung und die Optimierung von Maschinen. Die FVA-Workbench erweist sich somit nicht nur als leistungsstarkes Werkzeug zur Auslegung und Berechnung von Getrieben, sondern auch als Fundament für innovative Anwendungen im Kontext von Industrie 4.0. Besonders die Integration von Live-Daten, etwa über OPC UA, ermöglicht eine präzisere Berechnung, da die Messdaten einzelner Getriebeelemente direkt in die FVA-Workbench eingespeist werden und Berechnungen auf Basis realer Daten statt nur nominaler Werte erfolgen. Diese neuen Modelle sowie die Auswertung von Live-Daten führen dazu, dass ein digitaler Zwilling des Getriebes entsteht, der sämtliche Daten über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg enthält.

Mehr Informationen zur FVA-Workbench unter: www.fva-service.de/fvaworkbench

interop4X, eine Marke der FVA GmbH, ist Ihr Spezialist für Interoperabilität und digitale Lösungen in der Industrie. Mit dem Fokus auf den internationalen Kommunikationsstandard OPC UA hilft er Unternehmen, ihre Fertigungsprozesse zu optimieren und die digitale Transformation erfolgreich umzusetzen.

Mehr Informationen zu interop4X unter: www.interop4x.de

Fazit

Zusammenfassend zeigt die Abschlussarbeit von William Gunawan am pmd der TU Darmstadt, dass die FVA-Workbench effektiv für die Live-Berechnung von Getrieben eingesetzt werden kann. Sie eignet sich nicht nur hervorragend zur Auslegung von Getrieben, sondern dient auch als solide Grundlage für die Erstellung und kontinuierliche Aktualisierung digitaler Zwillinge. Dank der benutzerfreundlichen Standardfunktionen für Modellierung und Berechnung können selbst Studierende mit wenig Praxiserfahrung die Software problemlos bedienen.

Darüber hinaus eröffnet die Scripting-Funktion der FVA-Workbench zahlreiche Anwendungs-möglichkeiten und ermöglicht individuelle Anpassungen. Diese Erkenntnisse bieten eine vielversprechende Perspektive, indem sie aufzeigen, wie die FVA-Workbench zur Entwicklung innovativer Lösungen im Bereich digitaler Zwillinge beiträgt und somit maßgeblich die Fortschrittlichkeit in der Industrie 4.0 vorantreibt.

Referenzen

Attaran, Mohsen; Celik, Bilge Gokhan (2023): Digital Twin: Benefits, use cases, challenges, and opportunities. In: Decision Analytics Journal 6, S. 100165. DOI: 10.1016/j.dajour.2023.100165.

Czwick, Cordula; Martin, Georg; Anderl, Reiner; Kirchner, Eckhard (2020): Cyber-Physische Zwillinge. In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb 115 (s1), S. 90–93. DOI: 10.3139/104.112310.

Stark, Rainer; Anderl, Reiner; Thoben, Klaus-Dieter; Wartzack, Sandro (2020): WiGeP-Positionspapier: „Digitaler Zwilling“. In: Zeitschrift für wirtschaftlichen Fabrikbetrieb 115 (s1), S. 47–50. DOI: 10.3139/104.112311.

Wilking, Fabian; Schleich, Benjamin; Wartzack, Sandro (2021): DIGITAL TWINS - DEFINITIONS, CLASSES AND BUSINESS SCENARIOS FOR DIFFERENT INDUSTRY SECTORS. In: Proc. Des. Soc. 1, S. 1293–1302. DOI: 10.1017/pds.2021.129.

Autor

M. Sc. Michel Fett
TU Darmstadt

Michel Fett ist seit April 2022 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Produktentwicklung und Maschinenelemente an der TU Darmstadt. Zuvor hat er dort sein Masterstudium in Mechanical and Process Engineering abgeschlossen.

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